Sinn und Unsinn von Ordnung

Ich nenne 2 Beispiele: Im ersten Beispiel lege ich mein Strickzeug nicht mehr auf die Couch, sondern in den Schrank, warum? Weil ich Ordnung haben will. Ich würde jetzt noch weiter fragen: Warum willst du Ordnung haben? Kommt jemand zu Besuch? Meist lautet dann die Antwort: Ja.

Zweites Beispiel: Ich lege Unterhosen und Unterhemden ordentlich zusammen, bevor ich sie in den Schrank lege. Früher lagen sie in einer Schublade. Die ist nun kaputt, so dass sie alle pingelig gefaltet in den Schrank gelegt werden. Manchmal droht ein Stapel umzufallen. Meine natürliche Reaktion darauf: In Zukunft alles ungeordnet rein zu schmeißen. In diesem Beispiel setze ich mich aber wirklich eine halbe Stunde hin und falte mir mühsam einen zurecht.

Wieder stelle ich diese Frage: Warum mache ich das? Wozu brauche ich die Ordnung? Mein Mann findet die Sachen, ob sie gefaltet sind oder nicht. Aber ich brauche nicht die Ordnung im Schrank, ich brauche die Zeit, die ich dafür aufwende. Also halte ich sie nicht aufrecht.

Als ich noch ein Kind war, rückte meine Mutter die ganzen Schränke um, während ich in der Schule war (ich hatte ein sehr kleines Kinderzimmer mit niedrigen Möbeln), und den Inhalt räumte sie ebenfalls um. Das führte dazu, dass ich mich hilflos und entwurzelt fühlte.

Ihr krankhafter Kontroll- und Ordnungswahn ging so weit, dass ich auch bei eisigen Temperaturen im Hausflur die Schuhe ausziehen musste, bevor ich das Treppenhaus betrat. Dabei waren meine Socken oftmals nicht viel sauberer (Hähää, Schadenfreude...). Meine Spielsachen holte sie einzeln aus dem Schrank, wenn sie nicht ordentlich gestapelt waren. "Du Schlampinchen!" Hieß es dann. "Irgendwann schmeiße ich alles aus dem Fenster... Du bist stinkend faul!" So meist ihre Kommentare. "Warum hat die Puppe denn nichts an? Ach, die armen Puppen!"

All das führte dazu, dass ich den Sinn von Ordnung nie begriff. Das war etwas, womit mich meine Mutter drangsalierte, weil sie immer froh war, eine Schwachstelle von mir gefunden zu haben, auf der sie herumreiten konnte. Genau wie meine Dyskalkulie. Oft glaubte sie nicht, dass ich die Antwort wirklich nicht wusste, dann gab es nur Ohrfeigen mit den Kommentaren: "Ich weiß genau, dass du das weißt!" Das war eine Schwachstelle, auf der beide Elternteile gern herumritten, sich gegenseitig schadenfroh angrinsten und ich quälte mir derweil bei der komplizierten Zinsrechnung einen ab, weil ich es nicht schriftlich rechnen konnte. Irgendwann fragte ich: "Wieviel war das noch mal?" Oder ich habe ganz von vorn wieder angefangen.

Ich habe also Ordnung als narzisstische Maßnahme gesehen, mit der man auf jemandem herumhackt, der diese strengen Ordnungsmaßstäbe nicht anwenden kann, sich nicht eine halbe Stunde Zeit nimmt, um das Zimmer aufzuräumen, sondern ähnlich wie bei meinen Singlehaushalten alles eilig irgendwo hinstopft.

Über Ordnung weiß ich eines: Es ist eine zeitraubende Maßnahme, die für Kontrollfreaks eine Art Beschäftigungstherapie darstellt. Für mich ist es eine sinnlose Haarspalterei, die keine 3 Wochen anhält. Ich bin in der Lage, in 2 Wochen 2 Räume wieder herzustellen. In diesen 2 Wochen türmen sich die Sachen aus diesen 2 Räumen im 3. Raum sowie im Keller. Soll ich den 3. Raum auch noch machen, müsste ich ein paar Säcke auf den Balkon stellen. Ich würde nur oberflächlich Ordnung halten, in den Schränken herrscht dann weiterhin heilloses Durcheinander.

 

Deshalb meine Frage: Wozu dient die Ordnung? Dass man seine Sachen schneller wieder findet? Wenn ich sie nicht sehe, muss ich beim Aufräumen Buch führen, wo ich was hin packe. Weil dann nicht mehr alles an dem Platz ist, wo ich es brauche, sondern an dem Platz, wo sie nicht anderer Leute Aufmerksamkeit erlangen. So habe ich beispielsweise Schraubenzieher nicht in der Werkzeugkiste, weil ich dazu auch einige Sachen davon wegräumen müsste, sondern in einem Glas im Arbeitszimmer, wo auch die Schere beispielsweise drin steht, damit ich bei Bedarf immer danach greifen kann, und den habe ich öfter.

Das Strickzeug liegt auch immer auf der Couch, weil ich dort sitze und stricke. Ich packe es auch nicht weg, es sei denn, da darf absolut nichts liegen, weil wir Gäste bekommen. Die laden wir seit 2 Jahren nicht mehr ein, weil ich es nicht schaffe, die Wohnung in einen ansehnlichen Zustand zu bekommen.

Ist die Ordnung, die man selbst hat, nur gut für die Anderen? Für die, die zu Besuch kommen, beispielsweise? Es gibt Ordnungsfanatiker, wie meine Mutter zum Beispiel. Sie gibt es seit 2010 nicht mehr, aber die anderen Fanatiker würde ich gerne was fragen: Habt ihr eure Ordnung für euch selber, oder um Anderen zu suggerieren: "Seht mal, was für eine tüchtige Hausfrau ich bin, wie schön ich alles im Griff habe!"

Wenn ihr die Ordnung wirklich selber braucht, könnt ihr mir die Frage beantworten: Wozu? Was wäre daran schlimm, wenn ein paar Kuchengabeln daneben rutschen und bei den Teelöffeln landen? Oder was wäre daran schlimm, wenn ein Kleid vom Bügel rutscht, der viel zu schmal dafür war? Was ist daran schlimm, wenn der Hund ein paar Pfotenabdrücke und Haare hinterlässt? Was ist so schrecklich daran, wenn nach dem Duschen ein paar Wassertropfen und Haare in der Dusche sind?

Meine Tante ist auch so ein Freak: Sie regte sich immer auf, dass ich die Dusche nicht geputzt hätte, nachdem ich sie benutzte. Mit 14 Jahren fragte ich mich auch nach dem Sinn des Putztheaters: "Wie soll man denn Seifenwasser noch sauberer machen?" Hätte ich am Liebsten gefragt.

Verratet mir mal, was jemanden den Zeigefinger anfeuchten und an den Regalen entlang ziehen lässt, um zu zeigen, wo ich nicht Staub gewischt habe. Mein Vater war früher auch so drauf. Jetzt, wo er selber wischen muss, kann er auch nicht mehr überall dran und lässt es dann auch.

Aus meiner Sicht ist Ordnung nur ein Kontrollzwang. Es gibt die von anderen aufgezwängte Ordnung und die Ordnung, die man sich selbst aufzwängt, ähnlich wie den Waschzwang, oder immer wieder das Türschloss zu kontrollieren. Dann gibt es noch die dekorative Ordnung, die signalisieren soll: "Siehst du, ich bin ein beherrschter, ordentlicher Mensch, mit dem man nicht diskutieren muss!" – Es aber vielfach auch nicht kann.